Freitag, 12. März 2010

Strelitz erzählt: Tschi-Keis Geschichte

(... vom kleinen Mädchen vor der Tür)

Tschi-Keis glückliche Kinderzeit endete abrupt, als sie mit ihren Eltern in die schwarze Stadt zog. Mitten im tiefsten Winter fuhren sie los, der Schnee im Wald war tief, weiß und weich - Märchenschnee, extra ausgeschüttet für 6-jährige Mädchen mit viel Phantasie.

Als sie endlich aus dem Zug stiegen, fasste Tschi-Kei erschrocken nach ihres Vaters Hand und klammerte sich erschüttert daran fest. Die Stadt war schwarz, schwarzer Schnee, matschig und schwer wie Pech. Noch niemals hatte Tschi-Kei so etwas Erschreckendes gesehen. Der schwarze Schnee lag wie ein dunkler Schatten auf den Jahren, die sie dort verbrachten. Lange, lange dauerte es, ehe die Stadt für Tschi-Kei ein wenig heller wurde.

An jenem Wintertag zerbrach Tschi-Keis heile Kinderwelt in kleine Stücke, wurde zu einem zersprungenem Spiegel.

Der Vater war die ganze Woche nicht da und kam nur an den Wochenenden nach Hause. Die neue Wohnung war dunkel und kalt. Die Menschen erschienen abweisend und fremde Kinder schüchterten das kleine Mädchen ein. Die Mutter ging jeden Morgen aus dem Haus und kam erst am späten Nachmittag zurück. Jeden Wochentag, 5 Tage in der Woche, holte Tschi-Kei die kleine Schwester vom Kindergarten ab und versorgte sie, bis die Mutter kam. Mit anderen Kindern zum Spielen verabreden war unmöglich und bald fragten sie auch nicht mehr.

Aus einem fröhlichen kleinen Mädchen wurde ein stilles, einsames Kind, in sich gekehrt und ernsthaft. Eine Erlösung war es, Lesen zu lernen und sich in die Phantasiewelten der Bücher zu flüchten. Wenn die Wochenenden kamen lebte Tschi-Kei zuerst auf, es schien als käme mit dem Vater das Licht zurück. Doch auch die Wochenenden verdunkelten sich immer mehr. Die Eltern stritten sich und Tschi-Kei stand dazwischen, in der Mitte auseinandergerissen und hilflos.

Eines Tages, es war inzwischen Sommer geworden in der schwarzen Stadt, machte sich die Familie wie jeden Sonntag zum Spaziergang bereit. Die Eltern begannen zu streiten und Tschi-Kei wurde vor die Tür geschickt. Sie sollte dort warten. Tschi-Kei wartete, wartete und wartete. Dem Kind schien es, als hätte es Stunde um Stunde vor der Tür gestanden. Die Sonne schien, der Himmel war blau und die Luft warm. Manchmal, wenn ein Windhauch die Chemieluft bewegte, roch es nach dem selben Sommer, den Tschi-Kei aus dem Wald kannte.

Irgendwann kam ein Junge vorbei aus Tschi-Keis 1. Schulklasse. Er sprach sie an und sie erzählten sich was. Immer noch wartete Tschi-Kei brav vor der Tür. Bis sie dann gefragt wurde, ob sie nicht auf den Spielplatz gehen könnten. Tschi-Kei mochte den Jungen, das erste Mal hatte sie in dieser fremden Stadt das Gefühl, einen Freund gefunden zu haben. Die beiden Kinder gingen auf den Spielplatz und Tschi-Kei vergaß ihren Warte-Auftrag.

Später fiel es ihr wieder ein und sie eilte glücklich strahlend nach Hause. Mit Begeisterung wollte sie ihren Eltern erzählen, dass sie endlich nicht mehr so einsam sei.

Doch alles kam anders. Die Mutter empfing sie mit bösen Worten und den ersten Schlägen ihres Kinderlebens. Tschi-Kei wurde nicht angehört, nicht gefragt - niemand wollte etwas wissen.

Aber sie war schuld, sie war schuld daran, dass es ihrer Mutter schlecht ging, schuld am Streit ihrer Eltern, schuld an allem. Sie war ein schlechtes Kind. Sie trug die Verantwortung.

In der schwarzen Stadt lernte Tschi-Kei, dass sie schuld war, sie lernte, dass sie nichts wert war und dass sie nur hoffen durfte, von anderen gemocht und geliebt zu werden, wenn sie brav war.

Immer und immer wieder das zu tun, was andere von ihr erwarteten, alles dafür zu geben, damit es anderen Menschen gut ging und darauf zu hoffen, dass sie dann ein bisschen wertvoller wurde, ein bisschen weniger schlecht und schuldig, wurde Tschi-Keis Lebensinhalt. Und die immer kleiner werdende Hoffnung darauf, dass man sie eines Tages dafür auch lieben würde!

Und immer wieder steht das kleine Mädchen vor der Tür und wartet, wissend von ihrer Schuld. Doch irgendwann wird Tschi-Kei die Kraft haben, die eine Tür zuzuschlagen und die andere zu öffnen. Dann wird Tschi-Kei nicht mehr einsam sein, denn sie hat sich gefunden.

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