Mittwoch, 10. März 2010

Strelitz und: Die Nordseekrise

Es war am 22. Januar 2003, exakt 22 Uhr 14, als Strelitz sich übergeben musste. Übergeben war noch ein harmloser Ausdruck für das, was sich in der Toilettenschüssel abspielte, die Strelitz für seinen finalen Akt der oralen Läuterung auserwählt hatte. Und er wusste, zu dieser Form der Entleerung würde später am Abend noch eine Reinigung des Darmtraktes hinzukommen, gefolgt von krampfartigen Magenschmerzen. Derweil schwammen in der Schüssel nicht weniger als 27 1/2 Portionen Grillfisch, rund 4,7 kg Pommes und etliche Emer Remouladensauce. Zu guter Letzt förderte Strelitzs Magen auch noch einige bereits halbverdaute Zitronenecken zutage, die er im Eifer des Gefechtes gleich mit eingenommen hatte.

Dabei hatte alles ganz harmlos angefangen. Am Sonntag zuvor war Strelitz spazieren gegangen, ein halbe Stunde im winterlichen Jena, entlang der Saale, zu Shillerkof und über die Karl-Liebknecht-Straße zurück. Dabei fiel ihm ein Plakat der Nordsee-Restaurants auf, das Strelitz sich genauer betrachtete. Ein netter junger Matrose, wahrscheinlich der Enkel von Käpt'n Seebär, lächelte ihn an und trug zwei riesengroße Teller voller Backfisch vor sich her. "Grillfisch satt!" sagte er zu Strelitz und weiter stand dort zu lesen "1-mal zahlen, x-mal schlemmen! Freuen Sie sich ab 15 Uhr auf Grillfisch satt! Für nur 5 Euro 95 können Sie so oft Grillfisch und Pommes nachbestellen, wie Sie essen möchten. Wir wünschen guten Appetit!" - Das gefiel Strelitz. Es gefiel ihm sogar außerordentlich.

Auf den Mittwoch Nachmittag hatte Strelitz sich gut vorbereitet. Zwei Tage lang hatte er komplett gefastet, den "Hungerkünstler" von Kafka gelesen und nur Mineralwasser zu sich genommen. Dann war er am Mittwoch kurz vor 15 Uhr zum Nordsee-Restaurant in der Fußgängerzone gegangen, hatte sich dort in die lange Schlange wartender Möchtegern-Esser eingereiht um dann gegen zwanzig nach Drei seine 5 Euro 95 zahlen zu können.

Damit hatte er seine Eintrittskarte in die Welt der Gourmands gelöst. Strelitz startete mit "Rotbarschfilets vom Grill" und bekam von der netten Frau hinter dem Tresen auch gleich noch interessante Zusatzinformationen. "Der Rotbarsch", sagte sie zu ihm, "ist ein Raubfisch, der im Nordatlantik bei Schottland oder Island vorkommt. Sein Lebensraum ist der Küstenbereich, aber auch freischwimmend kommt er vor und bewegt sich üblicherweise in etwa 200 Metern Meerestiefe. Neben kleinen Heringen frisst er ab und an auch Plankton. Sein Filet ist zartrosa, hat einen herzhaften Geschmack und zerfällt nicht beim Backen oder Grillen."

Danke, sagte Strelitz und hatte während der Rotbarsch-Erklärung schon die zweite Portion nachverlangt. Danach stieg er um, erst auf Alaska-Seelachs ("Alaska-Seelachs zeichnet sich durch sein mageres weißes Fleisch aus ..."), dann wählte er den "Alaska-Pollak" ("Der Pollak ist an den Küsten des Nordpazifiks von Japan bis Mittel-Kalifornien beheimatet ... "), stieg danach für zwei Portionen auf traditionelles Seelachsfilet um ("Die hier verwendete Rohware stammt vom Köhler. Das kräftige Aroma entfaltet sich ..."). Anschließend entschied sich Strelitz für den Blauen Seehecht "Prestige", verlangte im Anschluss anach Schollenfilets bevor er sich zum Abschluss kam und sich noch zwei gegrillte Fischfrikadellen reichen lies. Damit war Strelitzens erster Gang im Nordsee-Restaurant beendet. Danach begann er sein Gastmahl wieder von vorn.

Zum Beginn des zweiten Gangs nahm Strelitz aber Kabeljaufilet neu in sein Programm auf. Als er mit "Scholle gegrillt" fortfuhr hatte die nette Erstverkäuferin endlich über Handy ihren erreicht, der sofort ein Taxi nahm und zu seiner Filiale am Marktplatz fuhr. Ob es ihm denn schmecke, wollte der, noch atemlos vom Sprint durch die Fußgängerzone, von Strelitz wissen, worauf dieser ihm antwortete, dass er dies so früh am Nachmittag noch nicht sagen könne. Der Fillialleiter führt eine oder zwei Telefonate und strich Strelitz nach zwei weiteren Portionen Seelachsfilet erst die Remouladensauce, und reduzierte, als der erneut nach Schollenfilets verlangte auch noch die Pommes auf "haushaltsübliche Mengen", wie er sich ausdrckte. Hiergegen musste Strelitz freilich Protest einlegen. Auf dem Plakat vor dem Fillialeingang stand zwar fettgedruckt "Grillfisch satt!", jedoch musste der Filialleiter im Kleingedruckten entsetzt den Halbsatz lesen "... können Sie so oft Grillfisch und Pommes nachbestellen, wie Sie essen möchten ...". Schweren Herzens gab dieser daraufhin die immer noch in der Fritteuse gefangen gehaltenen Pommes wieder frei.

Als Strelitz bei "Grillfisch satt" zu seiner dritten Runde ansetzte, regte sich Protest von ganz anderer Seite. "Die anderen wollen auch noch etwas essen", rief ihm ein älterer Herr zu, der sich als bettlägerig outete und deshalb vorgelassen werden wollte. Strelitz tat ihm diesen Gefallen nicht und die Situation der, mittlerweile in leichte Versorgungsschwierigkeiten geratenen, Nordseefiliale machte ihm ebensowenig aus. "Kann ich noch eine Portion Scholle haben", flötete er der Bedienung in Ohr und die brachte sie ihm auch sofort, zusammen mit zwei Packungen Tabletten gegen Sodbrennen als "Empfehlung des Hauses".

Die Grillfisch-Portionen Nummer 14, 15 und 16 mundeten Strelitz immer noch prächtig, wogegen ihm seine Portion Nummer 17, der "Blaue Seehecht Prestige", etwas fader schien als beim ersten Gang. Aber das könne sich beim nächsten Mal schon wieder ändern, sagte Strelitz dem staunenden Publikum, das sich inzwischen um ihn versammelt hatte.

Kurz vor 19 Uhr hatte Strelitz dann endlich den lästigen Studenten besiegt, der in der hinteren Ecke bisher fleißig mitgehalten hatte, nun aber ohnmächtig zu Boden sank und sich nach seiner Wiederbelebung unverzüglich übergeben musste. Die Portionen 21, 22 und 23 bereiteten dann aber auch Strelitz einige magentechnische Schwierigkeiten - wahrscheinlich war dessen Füllungsvolumen inzwischen schon beinahe erschöpft -, aber Strelitz wollte unbedingt noch mindestens das Grillfisch-Silberjubiläum erreichen.

Derweil gingen die Küchenvorräte der Nordsee-Filiale endgültig dem Ende entgegen. "Wir schließen in 55 Minuten" sagte der Filialleiter zu Strelitz, der sich durch derlei plumpe Vertraulichkeiten allerdings nicht vom Essen abbringen lies. Noch 31 Minuten hatte die Filiale geöffnet, als ihr die Schollen ausgingen. 28 Minuten vor Geschäftsschluss waren es der Blaue Seehecht und der Pollak. Noch 12 Minuten hatte die Filiale geöffnet, da konnte das Team des Restaurants Strelitz nur noch mit gegrillten Fischfrikadellen dienen, die dieser aber dankbar annahm.

Es war 20 Uhr und 9 Minuten, als sich Strelitz unter dem Jubel der Massen den Mund abwischte und das Fischrestaurant am Markt verlies, nicht ohne dass er ein Telefongespräch des Filialleiters mitbekam, in dem dieser der für den Folgetag einen Extra-Transporter mit frischer Ware geordert hatte, "sonst können wir nicht öffnen".

Als Strelitz an diesem Tag um die Mitternachtsstunde restlos geläutert war, fühlte er sich besser. Er nahm die Tabletten gegen Sodbrennen ein, die immer noch eine Empfehlung der Geschäftsleitung darstellten und war sich sicher, dass Morgen ein neuer Tag ist. Ein Tag, an dem er den Kampf aufs neue aufnehmen wollte. Ein Tag, der die Nordsee-Krise in einen Kriegsherd verwandeln sollte.

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