Freitag, 12. März 2010

Strelitz ist: Lumbricus Terrestris

„I might be more happy in this Solitary Condition,
than I should have been in a Liberty of Society
and in all the Pleasures of the World."

(Daniel Defoe 'Robinson Crusoe', Kapitel 8)

Strelitzens Verwandlung zum Wirbellosen begann an einer Supermarktkasse in Stokeinteignhead, Grafschaft Devon, Südengland. Er kaufte ein paar Salatköpfe, frisch, grün, gut gewaschen, mehrere Rollen Frischhaltefolie und Gleitcreme.

Dann fuhr Strelitz zum stillgelegten Milchhof am Ortsausgang und begutachtete seine neue Wirkungsstätte im Wald: ein Matschloch, knapp einen Meter tief, drum herum wuchsen Gräser und Kräuter. Am Boden des Lochs hatte sich Wasser gesammelt, mit der dunkelroten Erde mischte es sich zu einer unansehnlichen Brühe. Morgen früh, 11. September 2004, sollte es losgehen, man hatte zu einem Kunstfest geladen und Strelitz war ausgewählt worden.

Er musste jetzt nur noch in die richtige Stimmung kommen. Neben das Matschloch stellte er sein Zelt, kochte Tee auf dem Gaskocher und schaute zum Himmel. Keine Sterne, das Wetter war so, dass es Regenwürmer an die Oberfläche treibt: regnerisch.

Am nächsten Morgen zog Strelitz eine Absperrleine um das Matschloch, zum Schutz der Zuschauer. Es reichte schließlich, wenn einer ins Loch fiel: Strelitz, der Künstler.

Er setzte sich eine Schwimmbrille auf, zog sich aus bis auf die Unterhose, legte sich platt auf die Erde und wickelte die Frischhaltefolie um seinen Körper, dass Arme und Beine kaum noch zu bewegen waren, drückte mit den Zähnen die Tube Gleitcreme über seiner Brust aus und verstrich die weißliche Paste, indem er sich langsam wälzte im Matsch.

Strelitzens äußerliche Verwandlung war jetzt vollzogen, er robbte ins Loch. Er wollte wissen, wie es ist, ein Gemeiner Regenwurm zu sein, ein so genannter Lumbricus terrestris aus der Gruppe der Wenigborster, braunviolett, von einer Schleimschicht umhüllt. Neun Tage lang.

Am ersten Tag kamen ein paar Künstlerfreunde. Sie saßen um das Loch herum, schwiegen und rauchten. Sie kannten das schon, früher war Strelitz Schlange und Nacktschnecke. Auf einer seiner Performances verband er sich mit einem Tuch die Augen und ließ sich an einer Leine von Zuschauern sechs Stunden lang, jeden Samstag, durch ein verschlossenes Zimmer jagen: als Hund.

Am zweiten Tag kamen ein paar Kinder mit ihrem Lehrer. Sie fragten: "Hallo Wurm, geht es dir gut?" Strelitz antwortete nicht. Der Lehrer sagte, ihr müsst das verstehen, Würmer haben keine Augen, sind taub und stumm. Die Kinder nickten, bald wurde ihnen langweilig und sie gingen wieder.

Am vierten Tag schien die Sonne, Strelitz grub kleine Tunnel, so, wie Würmer es tun, wenn sie sich durch die Erde wühlen und mit ihrem Kot die Wände ihrer Gänge auskleiden.

Am sechsten Tag (oder war es schon der siebte? - Strelitz verließ langsam das Gespür für Zeit und Raum) kam ein Kamerateam. Sie beugten sich über das Loch und sahen Strelitz, der gerade an einem Salatblatt aus dem Supermarkt knabberte und fror. "Erlauben Sie die Frage", sagte der Reporter, "was soll das Ganze?" - Strelitz antwortete nicht, er war es leid. Dabei ist alles doch so einfach: Strelitz wollte erleben, wie es sich anfühlt, eins zu sein mit der Erde, auf der wir leben und in die wir kommen, wenn wir tot sind. Er wollte den Unterschied erfahren zwischen Menschsein und Tiersein an dem Punkt, wo sich beide einander annähern.

Strelitz hat an der Kunsthochschule Texte von Judith Butler gelesen, Julia Kristeva, Michel Foucault. Es geht ihm um mehr als bloß um Regenwürmer. Er wollte Gender Studies im Freien betreiben, jene Theorien überprüfen, in denen es um die soziale Konstruktion sexueller Orientierung geht. Dazu eignet sich der Regenwurm, fand Strelitz, ganz gut, ein Hermaphrodit, Mann und Frau zugleich, ein Zwitterwesen. Es ging ihm um Ausgrenzung, um Qualen am eigenen Körper und darum, wie es ist, Opfer zu sein. Opfer des Menschen.

Das aber, dämmerte Strelitz, Wurm gewordener Mensch im Erdloch, war denen da oben zu hoch. Er knabberte noch ein Weilchen am Salat, versuchte sich an Erdklumpen, so, wie Würmer es tun. Die schönsten Stunden verbrachte er nachts im Zelt, trocken und warm. Am neunten Tag war alles vorbei und Strelitz erleichtert.

Auf die Frage, was er nun gelernt habe als Wurm, sagt Strelitz, dass es falsch war, als Kind Salz auf Nacktschnecken zu streuen oder Würmer in der Mitte durchzuschneiden, auf dass beide Teile davonkriechen. Erstens, sagt Strelitz, überlebe meist nur der Teil mit dem Kopf. Und zweitens wisse er nun, dass Würmer nützlicher seien als der Mensch. Weil auch viel Macht liege in der Machtlosigkeit der Wirbellosen.

Als Nächstes will Strelitz Insekt werden; welches, das weiß er noch nicht.

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