Dienstag, 9. März 2010

Strelitz findet: Eine plastinierende Welt

Sommer 2001. Strelitz war wieder einmal in Berlin. "Die Plastination des Echten" stand auf seinem Kulturprogramm, aber er wäre nicht Strelitz wenn ihn nur das dorthin getrieben hätte. Wie damals bei "Les Miserables" interessierte ihn auch, was draussen vor dem Postbahnhof am Ostbahnhof ablief, besser gesagt: abstand. - Acht Stunden Wartezeit um dann an elastischen Körpern vorbeigeschoben zu werden? Was gibt es schöneres?, dachte er.

In China, dort wo Professor Günther von Hagens (übrigens, wie Strelitz feststellte, eine der genialsten Wortneuschöpfungen aus dem Wortschatz des Nibelungen. Eigentlich so gut, dass sie schon wieder echt sein konnte ... oder zumindest plastiniert) jetzt vor allem praktizierte, gehen die Uhren natürlich anders als in Deutschland. Da finden konservierte Körper seit Maos Mumifizierung von Natur aus reisenden Absatz. Aber hier? Strelitz wartete gespannt auf den Merchendising-Stand.

Irgend jemand hatte ihm einmal erzählt, dass die Chinesen seit der Sache mit dem Kanonenboot nicht mehr so herzhaft gelacht hätten, als über den deutschen Professor, der ihnen gezeigt habe, wie man Dissidenten verewigen kann. Es ist wirklich erstaunlich, dachte Strelitz, was in Chinesischen Gefangenenlagern so alles hergestellt wird. Und in diesem Segment auf die urdeutsche Art und Weise: sauber und alles auf zack.

Doch Strelitz hatte Glüch und stand nur drei Stunden vor dem Eingang des Postbahnhofs. Einen Running Gag gab es für die Warteschlange immer dann, wenn das vordere Ende der Schlange fassungslos nach Erreichen der Eingangstür das winzige Schild zur Kenntnis nahm auf dem zu lesen stand: "Ab hier nur noch eine Stunde Wartezeit! Wir bitten um ihr Verständnis!". Manchmal, dachte Strelitz, komnmt eben nicht am Ende sondern am Anfang alles raus.

Strelitz musste dabei an Fräulein Maya aus dem Archiv denken. Bei ihr waren es ganze neun Monate gewesen, und als man ihr ein zitterndes Bündel namens Pasqual auf den Bauch legte, hatten es alle dann endlich schwarz auf weiß und die Gerüchte waren beendet. Ja, ja!, dachte STrelitz, irgendwann kommt eben alles raus. Damals in Berlin war es die Eintrittskarte, die aus dem Automat hervor kam, nachts um viertel vor zwei.

Die Ausstellung war dann schneller vorbei als die Wartezeit, aber an drei Dinge erinnert sich Strelitz auch heute noch gut. Erstens die Formulare, die man vor dem Betreten des Ausstellungsraumes ausfüllen konnte: Es waren Lizenzen zum Plastinieren des eigenen Körpers. Die Gehirnwäsche während der Wartezeit vor der Ausstellung hatte also offensichtlich gewirkt, wie Herr von Hagens per Videoeinspielung gebetsmühlenartig immer wieder bestätigte. Zweiten erinnerte sich Strelitz an ein Goethe Zitat, welches ihm beim Betrachten eines Plastinates leicht abgewandelt in den Sinn kam: "Wer reitet so spät durch die Nacht und verkehrt? Es ist der Plastifizierte auf seinem Pferd."

Drittens / Teil 1, und darauf war Strelitz sichtlich stolz, hatte er seine Menschenwürde behalten. Ganz im Gegenteil zu der jungen Frau, die ein gewisses Körperteil des "Werfers" - Frauen stehen halt auf sportliche Typen - anfasste und begutachtete, obwohl ihr Freund nochmals ausdrücklich auf die Schilder "Bitte nicht berühren!" hingewiesen hatte. Kaum hörbar deswegen seine nachgeschobene Frage: "Und ... wie hat es sich angefühlt?" "Na, ja...", sagte seine Lebensabschnittsgefährtin darauf, "...normal. So wie immer." Was der Bemerkung folgte war leichtes Hüsteln aus den verschiedenen Ecken des Saales.

Ganz anders etwas später die beiden Damen aus Fürstenwalde in Drittens / Teil 2. Die eine sagte bei dem Menschen, der seine eigene Haut vor sich her trug. "Also, ik fühl jetzt mal, wie schwer die Haut von dem Otto is." Der Hinweis des imaginären Sprechers im Kpfhörer auf ein Gewicht von acht Kilogramm wurde dadurch ignoriert, dass die andere schon zupackte. "Fühlt sich irgendwie wie Leder an", sagte sie, was ja irgendwie auch richtig war. - "Artikel 1 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes", murmelte Strelitz. Aber von Berühren war da halt nicht die Rede gewesen.

Was einem hier im Postbahnhof am Ostbahnhof dargeboten wurde, war eine Komödie der Irrungen in der die Arbeit Günther von Hagens plötzlich im Lichte Shakespeares einen ganz anderen Sinn bekam. "Sein oder Nicht-Sein", diese Frage stellte sich für Strelitz nun neu. Deshalb fasste er in dieser ganz besonderen Nacht nichts an und bewahrte sich damit seinen Glauben, dass zumindest er seine Würde behalten hatte.

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