Freitag, 12. März 2010

Strelitz hat: Die Idee

(... inspiriert von "The Gift" von Lou Reed)

Strelitz war am Ende. Es war jetzt Mitte August und das hieß, dass er von Tschi-Kei inzwischen mehr als zwei Monate getrennt war. Zwei Monate und alles, was er von ihr hatte, waren drei mehrseitige Briefe ohne Belang und einige sehr kostspielige Ferngespräche. Gleich nach Ende der Containershow war sie nach Buxtehude zurück gegangen und er nach Jena. Zwar hatte Tschi-Kei geschworen, ihm die Treue zu halten. Auch versprach sie Strelitz, sie würde sich gelegentlich mit ihm treffen - dabei klang sie jedoch alles andere als ernst. Aber hatte sie Strelitz nicht, als sie noch im Big-Brother-Container waren, auch gesagt, man solle sich niemals aufgeben. Strelitz saugte sich an dieser Hoffnung nur zu gerne fest.

Vor kurzem jedoch hatte Strelitz angefangen, sich ernsthaft Sorgen um die Beziehung zu machen. Nachts hatte er große Mühe einzuschlafen und wenn er es dann doch einmal schaffte, überfielen ihn die schrecklichsten Träume. Sie rissen ihn wieder aus dem Schlaf, er wieder wach, wand und drehte sich unter seiner Bettdecke, denn die geträumten Erlebnisse kamen ihm nicht aus dem Sinn. Er sah Tschi-Kei, wie sie in billigem Sekt badete, den ihr irgendein gut gebauter Neanderthaler großzügig spendiert hatte. Dann sah er die Liebkosungen, die sie für den 'Big Spender' übrig hatte und auch die darauf folgenden sexuellen Ausschweifungen.

Strelitz musste dann immer hemmungslos weinen, denn dies war mehr, als sein menschlicher Verstand aushalten konnte. Alles nagte und sägte an seinem Hirn, warf ihn aus der Bahn, brachte ihn zu erst zur Weißglut und dann fast zum Wahnsinn. Nur schwer gelag es ihm, sich zu beruhigen. Natürlich waren das alles nur Träume, keine Realität. Mußte, konnte, durfte er Tschi-Kei wegen solcher Schäume mißtrauen?

Nach und nach durchdrangen Strelitz jetzt auch tagsüber de Phantasien von Tschi-Keis sexuellem Eskapaden. Ständig lutschte sie auf Dingen herum, die Strelitz niemals in den Mund nehmen würde. Sie ritt Rodeo mit ihrem Neanderthaler und sagte ihm, dass sie ihn dafür lieben würde. Die Sache war ja auch, dass kein Mensch auf der Erde auch nur annähernd verstand, wie Tschi-Kei wirklich war. Nur er, Strelitz, allein verstand sie. Intuitiv hatte er von Anfang an jeden Quadratmillimeter ihrer Psyche erfasst, und - was besonders war - Strelitz war auch der einzige Mensch, der Tschi-Kei immer zum Lachen bringen konnte. Strelitz spürte mit jedem einzelnen Haar auf seiner Haut, dass Tschi-Kei, wo immer sie auch war, ihn dringendst brauchte.

Die rettende Idee kam ihm an einem Donnerstag. Gerade hatte er für einen Hungerlohn Buckelmanns Rasen gemäht und vertikutiert, war nach Hause zurückgekommen und hatte danach in seinen Briefkasten geschaut, um nachzusehen, ob ein Brief von Tschi-Kei angekommen war. Aber im Briefkasten war nichts weiter außer einem Rundschreiben der Pro1/Nimm2/ Sat3/Halb4/Kabel5 Media AG, die sich dafür interessierte, ob er, Strelitz, im Leben irgendwelche Probleme habe. Irgendwelche? Nein, er hatte ein ganz bestimmtes Problem. Andererseits: wenn sich schon Tschi-Kei nicht bei ihm meldete, zumindest interessierten DIE sich genug für ihn, um ihm einen Brief zu schreiben.

Strelitz schaute auf den Umschlag. Merkwürdig, der Brief wurde gestern erst in München zur Post gegeben und lag heute schon in seinem Briefkasten. Das ging ja schnell, dachte Strelitz und hatte genau in diesem Moment die rettende Idee. Sein Herz hüpfte vor Freude. Wenn er schon kein Geld hatte, so brauchte er sich um gute Ideen niemals Sorgen zu machen. Schon die ganze hatte Zeit hatte er gegrübelt, wie er es anstellen sollte, ohne Geld nach Buxtehude zu reisen. Dieses Problem hatte er nun mit einem Mal gelöst: Warum verschickte er sich nicht selbst? Die Idee war ebenso absurd wie einfach. Strelitz würde sich via Hermes für 15 Euro als ganz spezielle Gepäckpostlieferung versenden und Tschi-Kei würde staunen, wenn sie das Paket öffnen würde.

Am nächsten Morgen ging Strelitz in de Stadt, um die notwendige Ausrüstung für die Ausführung seines Plans zu besorgen. Er kaufte sich Packpapier und Klebeband und natürlich einen großen, stabilen Karton, gerade richtig für eine Person seiner Statur; von Buckelmann hatte er sich zude noch eine batteriebetriebene Heißklebepistole geliehen. Dann überlegte Strelitz, was er als Minimum an Komfort und Bequemlichkeit für seine Reise vorsehen mußte. Einige Luftlöcher im Karton und etwas Wasser brauchte er, selbstverständlich auch ein paar kleine Mahlzeiten, falls es wider Erwarten doch etwas länger dauern sollte, zwei Kissen und eine Decke, eine Taschenlampe, etwas zum Lesen und zum Zeitvertreib und auf seiner Reise würde es ihm vermutlich auch kaum schlechter ergehen, wie einem Pauschaltouristen im Bus nach Mallorca. All das kostete ihn nicht viel Geld, denn fast alle Dinge hatte er ja bereits in seiner Wohnung vorrätig.

Freitagnachmittag checkte sich Strelitz selbst ein. Er schrieb sorgfältig "Oben!", "Nicht stürzen!", "Zerbrechlich" und "Fragil" auf den Karton, setzte sich hinein, verstaute alle wichtigen Dinge darin, versiegelte den Karton von innen mit der Heißklebepistole so fest es ging und telefonierte dann via Handy mit HERMES, bat darum, um drei Uhr nachmittags bei ihm erschienen um ein großes Paket abzuholen und sagte auch, dass er selbst nich da sein könne und das Geld läge neben den ausgefüllten Transportformularen.

Während er zusammengekauert inmitten des Kartons saß, versuchte er sich den überraschten Blick auf Tschi-Keis Gesicht vorzustellen, während sie ihre Tür öffnete, das Paket geliefert bekam, den Karton dann öffnete um schließlich ihren Strelitz in Persona vor sich fand. Sie würde ihn natürlich zuerst berwältigt von ihrem Glück küssen, wie sie es auch im Container immer wieder getan hatte und möglicherweise würden sie sich dann gemeinsam einen Film ansehen und kuscheln und sich ganz fest aneinander drücken. Warum nur, ging es Strelitz durch den Kopf, habe ich die Idee nicht früher gehabt? - Pünktlich um drei Uhr nachmittags ergriffen kräftige Hände sein Paket; Strelitz fühlte, wie er hochgehoben wurde, mit einem Ruck in einem LKW landete und die Reise ging los.

Tschi-Kei hatte gerade ihr Haar fertig frisiert. Es war ein hartes Berliner Wochenende für sie gewesen und sie musste sich zusammennehmen, um nicht schon allein beim Gedanken daran, das, was wieder alles passiert war, mit Alkohol herunter zu spülen. Dieses Wochenende war hart gewesen, genauso hart wie Joseph, dachte sie. Fünf Mal wollte er es in der letzten Nacht. Der Kerl war einfach unersättlich, dachte sie, so unersättlich wie ein Asylbewerber aus Burkina Faso eben sein kann, der die ganze Woche über ichts zu tun hat und seine ganze Kraft in das Wochenende investierte. Nachdem es dann endlich vorüber war, hatte Joseph zu ihr gesagte, dass er sie sehr wohl respektiere, aber - nach allem - wäre es zweifellos der Ruf der Natur gewesen und man könne sich gegen den Ruf der Natur einfach nicht wehren. Nein, hatte Joseph weiter zu ihr gesagt, er liebe sie nicht, wenngleich er natürlich eine gewisse Neigung für sie entwickelt habe. Aber schließlich seien sie doch beide erwachsen genug um zu erkennen, dass ... - Tschi-Kei dachte daran, was Joseph Strelitz doch noch so alles beibringen könnte. Aber die Zeiten mit schienen ihrer Contaierliebe schienen schon Jahre her zu sein.

Kerstin, Tschi-Keis sehr sehr sehr gute Freundin, kam durch die Eingangstür und betrat die Küche. "Oh Gott", sagte sie, "es ist alles so ätzend, da draußen". "Ich weiß, was Du meinst", sagte Tschi-Kei. "Ich bin auch noch total fertig." Sie zog den Gürtel ihrer Strickweste enger. Kerstin ließ derweil ihren Finger über einige, auf dem Küchentisch verstreute, Salzkörner gleiten, leckte ihn ab und zog ein Gesicht. "Ich soll übrigens diese Tabletten nehmen, sagt mein Doktor". Kerstin zog dabei ihre Nase in Falten. "Davon bekomme ich immer ein Gefühl, als ob es mich von oben auf den Boden klatscht."

Tschi-Kei begann sich unter dem Doppelkinn zu reiben, eine Übung, die sie neulich im Fernsehen gesehen hatte. "Gott, hör auf davon zu reden", sagte sie. "Tabletten? Neeeh." Tschi-Kei stand vom Tisch auf und ging zum Wandschrank, aus dem sie eine kleine Flasche voller rosafarbener und blauer Pillen herausholte und sie auf den Tisch stellte. "Das Zeug hier hilft. Diese Fruchtzwerge sind besser als ein kleines Steak", sagte sie zu Kerstin, während sie versuchte, ihre Knie zu massieren. "Ich schwöre Dir, ich rühre NIEMALS WIEDER einen Daiquiri an", sagte sie dann zu Kerstin, gab die Massage auf und setzte sich nahe an den kleinen Tisch, auf dem ihr Handy lag. "Vielleicht ruft Joseph ja nochmal an", sagte sie mit einem flüchtigen Blick zu Kerstin, die gerade an ihren Fingernägeln nagte.

"Nach dem gestrigen Abend, dachte ich, Du wärst möglicherweise durch mit ihm", nahm Kerstin das Gespräch wieder auf. "Er ist eher durch mit mir, wenn Du verstehst, was ich meine. Tief in mir drin spüre ich ihn immer noch“, sagte Tschi-Kei und beide mussten lachen. „Mein Gott", sagte Tschi-Kei. "Der Kerl war ja wie eine Krake. Seine Hände waren ständig überall, er hat mich gedreht und gewendet und das hörte nie auf", stöhnte Tschi-Kei, ihre Arme gestikulierend wie zur Verteidigung anhebend. Kerstin nickte wissend. "Aber es ist doch so, weißt Du: nach einer Weile wirst Du müde, gegen ihn zu kämpfen. Und schließlich tat ich am Ende nicht wirklich mehr etwas gegen ihn, keine Ahnung. Wahrscheinlich dachte ich gestern, ich wäre ihm was schuldig, wenn Du weißt, was ich meine. Aber wenn er einmal loslegt, dann findet er kein Ende. Erste Runde, zweite Runde, dritte Runde, vierte Runde ...". Sie begann sich zu kratzen, während Kerstin kicherte. "Ich sag Dir, mir ging das letze Woche genauso mit Rocco", sagte Kerstin. "Und nach einer Weile", nun beugte sie sich vorwärts und flüsterte Tshi-Kei ins Ohr, "wollte ich es dann auch, hab einfach mein Gehirn abgeschaltet ud mich gehen lassen. Acht Runden hat er geschafft. Acht Runden." Jetzt lachten beide sehr laut.

In diesem Moment läutete HERMES an der Tür des großen und sehr farbigen Reihenhauses. Als Tschi-Kei die Tür öffnete, staunte sie nicht schlecht. Der HERMES Paketbote half ihr, das Paket hinein zu tragen. Er hatte seine gelben und grauen Papierbelege zum Unterschreiben dabei und mit einem Trinkgeld in Höhe von einem Euro, das Tschi-Kei ihrer kleinen beigen Geldbörse (welche, nebenbei bemerkt, ein Geschenk ihrer Mutter war) entnahm, ging er wieder, nicht ohne sich zuvor bei den Damen verabschiedet zu haben.

"Was denkst Du, was das ist und vor allem von wem?", fragte Kerstin. Tschi-Kei stand da, kopfschütteld und die Arme hinter ihrem Körper verschränkt, schaute auf den mitten im Raum stehenden braunen Pappkarton und murmelte: "Keine Ahnung."

Im Innern des Paketes bebte Strelitz, während er den gedämpften Stimmen lauschte, vor Aufregung. Kerstin ließ ihren Fingernagel über das Klebeband streifen, das zur Mitte des Kartons lief. "Warum schaust Du nicht auf den Absender, um zu sehen von wem es ist?" sagte sie. Strelitz fühlte seinen Herzschlag stärker werden und konnte jeden einzelnen Schritt Tschi-Keis spüren. Diese ging um den Karton herum und las den sauber mit Füller geschriebenen Aufkleber. "Oh mein Gott“, sagte sie überrascht, „es ist von Strelitz!" "Das fetzt," antwortete Kerstin und Strelitz bebte vor Erwartung.

"Du könntest es vielleicht ja öffnen", hörte er Kerstin sagen und beide versuchten nun den festsitzenden Deckel anzuheben. "Uhhhhh!", sagte Tschi-Kei mit leicht ärgerlichem Unterton. "Er muss es mit Superkleber verschlossen haben." Sie und Kerstin zerrten nochmals am Deckel. "Mein Gott, da brauchst Du ja einen Presslufthammer um das zu öffnen", sagte Kerstin. Beide zogen ein letztes Mal und Kerstin sagte dann resignierend: "Man bekommt einfach keinen Halt."

Beide standen schwer atmend vor dem Paket. "Warum holst Du Dir keine Schere?" fragte sie Tschi-Kei. Die ging in die Küche, aber alles, was sie dort fand, war ein Paar Nagelscheren. Dann erinnerte sie sich aber daran, dass ihr Vater im Keller eine kleine Ansammlung von Werkzeugen bereit hielt - für alle Fälle. Sie lief schnell nach unten und als sie wieder nach oben kam, hielt sie triumphierend eine große Gartenschere in ihrer Hand. "Das ist die beste, die ich finden konnte." sagte sie und Strelitz konnte Tschi-Kei dabei schnaufen hören. "Hier, mach Du es für mich", sagte sie zu Kerstin, "ich bin ganz außer Atem." Tschi-Kei lies sich erschöpft auf die große weiche Couch sinken und atmete dabei laut hörbar aus.

Kerstin nahm die Gartenschere und versuchte einen Schlitz zwischen dem Klebeband und dem Ende der oberen Pappklappe zu machen. Aber das mißlang, denn die Schneide der Schere war zu groß und es gab nicht genügend Raum, sie richtig anzusetzen. Nun ging Kerstin auf die Knie. "Verfluchte Sscheiße", sagte sie, zu Tschi-Kei blickend. Aber dann lächelte sie. "Ich habe eine Idee". "Was denn?" fragte Tschi-Kei und hob interessiert ihre Augenrauen. "Schau's Dir an." sagte Kerstin und berührte dabeimit der Gartenschere leicht den Deckel des Kartons.

Im seinem Innern war Strelitz nun so aufgeregt, dass er kaum noch atmen konnte. Auf seine Haut fühlte er aufgrund der Hitze im Karton lauter kleine Pickel und er glaubte, seinem Herzschlag bis in seinen Kopf verfolgen zu können. Gleich würde die Überraschung perfekt sein.

Kerstin stand auf, ging um das Paket herum, begutachtete es hier und da, ganz so, als wolle sie eine ideale Stelle finden, für das was sie gleich zu tun beabsichtigte. Dann lies sie sich nochmals auf ihre Knie sinken, umgriff die Gartenschere fest mit beiden Händen, holte tief Luft ... und rammte dann das lange Scherblatt durch die Mitte des Pakets, durch das Packpapier, durch den Deckel, durch die Pappe, durch die Polsterung und genau mitten durch den Kopf von Strelitz, aus dem, erst gemächlich, dann immer stärker pulsierend, mehrere kleine rote Fontänen durch den Deckel des Paketes in die Luft stiegen, um sich dort langsam durch die Schwerkraft in winzig kleinen Bögen gekrümmt zum glänzed gefliesten Küchenboden zurückzubewegen.

Tschi-Kei und Kerstin schauten sich das Schauspiel ebenso ungläubig wie fasziniert an. Als es dann beihnahe zu Ende war, sagte Kerstin zu ihrer allerbesten Freundin: „Ich muss sagen, da hat sich Strelitz aber wirklich Mühe gegeben.“ „Ja“, sagte Tschi-Kei. „Das sieht ganz nach ihm aus.“ Und ein letztes Mal vermischten sich Strelitzens kleine roten Fontänen mit der Montagmorgensonne zu winzigen aber wirklich herrlich anzusehen rotglitzernden Kaskaden.

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