Mittwoch, 10. März 2010

Strelitz und: Der Alleswisser

[Der Alleswisser, auch Wissensköstler (lat.: Omnisoph) genannt, ist ein Lebewesen, das sich von geistigem und weltlichem Wissen ernährt und daraus seine Synergie bezieht."] Mehr stand in Band 4 von Strelitzens einzigem Lexikon darüber nicht zu lesen.

Gestern hatte er zum ersten Mal einen Alleswisser kennen gelernt und er wollte nun einfach nur nachschlagen, was es mit solchen Wesen auf sich hatte. Getroffen hatte er ihn gestern Abend in der "Capella Colleoni", King Psychosomas ehemaliger Lieblingskneipe, die aufzusuchen Strelitz auch heute noch hin und wieder Lust hatte.

Spät war es geworden, gestern Abend (oder 'früh', wie der Alleswisser bemerkte) und zufällig kamen sie ins Schwatzen. "Die Loveparade ..." wollte Strelitz gerade loslegen, als der Alleswisser ihn mit den Worten unterbrach "... ist ja eigentlich gar nicht Lubitschs Erfindung. Den Namen hat er sich von König Heinrich dem VIII. entliehen, der nach dem Tod von Anna Boleyn 1536 eine sogenannte 'Loveparade' an sich vorbeiflanieren lies um sich dann ein neues Eheweib zu suchen. Das ist zwar nicht verbürgt, aber ich weiß das aus gesicherter Quelle. Ich weiß zum Beispiel auch, dass Lubitsch sein ambitioniertestes Projekt bis zu seinem Tode 1947 geheim hielt; ich glaube es sollte ein Remake von Remarques 'Im Westen nichts Neues' sein. Übrigens einer der genialsten Eindeutschungen eines Originalbuchtitels. Remarques Vorlage soll ja 'Nothings happens on the Western front' geheißen haben. Der deutsche Titel hat sich dann seit 1940 verselbständigt. Na ja! - Marlene wusste schon ganz genau, warum sie aus ihrem Erich das letzte herausholte. Aber Entschuldigung, ich hatte Sie unterbrochen."

Strelitz war einerseits froh darüber, das er endlich auch etwas sagen durfte, aber im Moment fiel ihm gar nichts mehr ein. Also knüpfte er da an, wo der Alleswisser sich selbst unterbrochen hatte: "Das sollen ja tatsächlich bewegte Momente gewesen sein, zwischen Maria Magdalena und ihrem Erich Maria ..." - Der Konter kam umgehend. "... Momente, mein Lieber, sind vergänglich; die Hassliebe zwischen Erich und Marlene, die im übrigen Marie und nicht Maria hieß, war aber ewiglich. Ich weiß, dass Marlie, nachdem sich Erich 1970 abgemacht hatte, alle 27 Tage eine Migräne bekam, die sie 'Hemikranie E.R.' nannte, und das E.R. stand nun in keinem Fall für eine spätere amerikanische Krankenhausserie, auch wenn das nicht ganz bewiesen ist, denn schließlich ist Steven Spielberg der Produzent der Serie und der hat sich nun intensiv mit Marlenes Leben beschäftigt. Migräne E.R./Krankenhaus E.R.? Da könnte doch was dran sein; muss ich mir unbedingt merken. Nochmals Entschuldigung, mei Herr, aber was wollten Sie gerade sagen?"

Strelitz war geduldig. "Migräne sagten Sie gerade. - Ich hoffe ich bin nicht unhöflich, wenn ich Sie bitte mir ein anderes schwieriges 'M'-Wort zu erklären, das ich bis heute nicht verstanden habe: 'Mimesis'. Der Alleswisser fühlte sich in keinster Weise unhöflich befragt und empfand sogar ein gewisses Vergnügen dabei, Strelitz diese Wissenslücke auszufüllen. "Unter Mimesis versteht man die Nachahmung der Wirklichkeit in der künstlerischen Darstellung. Es ist ein Begriff aus der antiken Rhetorik, der in unseren Breiten allgemein in Vergessenheit geraten ist. Oder er wird verwechselt mit der 'Mimese', die die körperliche Übereinstimmung der äußeren Form und Farbe eines Tieres mit einem Teil seiner Umgebung beschreibt. Im Zen findet man etwas ähnliches: Das Einswerden mit seiner Umwelt. Übrigens eine meiner Lebensphilosophien. Ich werde eins mit dem Wissen, das mich erreicht und lebe davon, gebe aber auch wieder etwas ab an meine Umwelt. In so fern lebe ich also eine interaktive Mimesis. - Aber es ist interessant, dass Sie mich auf diesen Begriff angesprochen haben. Können Sie mir sagen wieso?"

Strelitz war froh, dass er den Alleswisser endlich an dem Punkt hatte, an dem er seine Schwäche zeigte; nun konnte also Phase 2 eingeleitet werden: 'Der Eisbrecher!' - "Leider konnte ich in meinem Lexikon nichts über 'Mimesis' finden. Und Sie müssen wissen, ich habe ein gutes Lexikon zuhause" sagte Strelitz. "Wenn Sie mir bitte freundlichst sagen würden, welches Nachschlagewerk Sie ihr eigen nennen. Dann könnte ich ihnen ein paar Dinge darüber erklären." Das war die Frage, auf die Strelitz gewartet hatte: "Also, wenn ich mich recht entsinne ist es Ersch/Grubers 'Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaft und Künste'; ich meine die vollständige Ausgabe von 1971 in 195 Bänden." Der Alleswisser schaute Strelitz ungläubig an.

"Die 'Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaft und Künste' von Johannes Ersch und Johann Gustav Gruber erschien zwischen 1818 und 1889 in insgesamt 167 Bänden, wurde aber nie zu Ende gebracht, weswegen sie unter Kennern auch 'Die Unvollendete' genannt wird. Es gibt davon keine 195 Bände!" "Bei mir zuhause schon" entgegnete Strelitz. "Ich habe mir die vollständige Ausgabe von 1971 mit insgesamt 195 Bänden vor etwa acht Jahren auf einem Flohmarkt bei Frankfurt gekauft." Der Alleswisser war konsterniert: "Mein Lieber, DAS IST VÖLLIG UNMÖGLICH!"

Fünfunddreißig Minuten später war die "Capella Colleoni" vergessen und der Alleswisser saß in Strelitzs Wohnung, laß sich gefesselt in Ersch/Grubers "Allgemeiner Enzyklopädie der Wissenschaft und Künste /Band 168" fest und merkte nicht, dass Strelitz die Tür des Zimmers, in dem er saß, bereits abgeschlossen hatte.

Strelitz wollte schon immer einen Alleswisser in seiner Wohnung aufnehmen und nun hatte er es geschafft. Wenn die "Allgemeine Enzyklopädie" nicht ausreichen sollte, den Wissensdurst und -hunger des Alleswissers zufrieden zu stellen, dann hatte er ihm auch noch ein TV-Gerät mit Kabelanschluss ins Zimmer gestellt. In der Haltung waren diese Lebewesen einfach; man mußte nur einen finden, dachte Strelitz. Auch den Effekt, dass ab jetzt die in der Umgebung eines Alleswissers befindlichen Nachschlagewerke in ihrer Dicke stetig immer etwas abnahmen, war Strelitz zu tragen bereit. Wie sagte schon die große Göttin Schiwa Winadhara: "Warum lügen, wenn's doch stimmt!"

Und was es mit der "Capella Colleoni" in Bergamo auf sich hatte, das wußte ja eh jeder.

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