Donnerstag, 11. März 2010

Alles eine Frage der Zeit

"Alles eine Frage der Zeit", sagte Strelitz zu seinen Sitznachbarn, als er mit der S-Bahn durch die Vororte von Berlin streifte. "Steta denken die Menschen, sie seien unglaublich und hätten eine bestimmte Sache gerade eben erst entdeckt. Die 'Loveparade' zum Beispiel", sagte er, "ist keinesfalls eine Ersterfindung von Dr. Motte. Nein, so hieß bereits in den zwanziger Jahren ein mit dem Oscar prämierter Film des großen Ernst Lubitsch".

Seine Zuhörer nickten. Strelitz mochte ihre wissenden Gesichtsausdrücke, leicht gelangweilt ob seiner Botschaft, die sie ja bereits kannten. Natürlich hatten es alle von Anfang an gewusst. Dass sie nun in einem unbemerkten Moment verschämt 'Lubitsch' auf Servietten, Zeitungsecken oder Innenhandflächen kritzelten, hatte nichts zu bedeuten. Aber Strelitz hatte ja noch mehr solcher Wissenslücken parat und bis zum Ostkreuz war es noch weit. Am Savignyplatz erwähnte er zum Beispiel wie der berühmte Waldo Jeffers mit Künstlername hieß, am Tiergarten mit wem Norma Jean an ihrem Todesabend zum letzten Mal Sex hatte oder am Hackeschen Markt von welchem Chuck Berry Titel die Beach Boys mehr als vier Takte geklaut haben. Alles Informationen, die die Welt bei 'wissen.de' vergeblich nachfragte und die man nur sonst kennt, wenn man selbst dabei war.

Strelitzens S-Bahn näherte sich inzwischen dem Ost-Kreuz und so widmete sich seinem Lieblingsthema der letzten Tage: Was könnte die Steigerung von "Alles eine Frage der Zeit" sein? Zuerst, so eröffnete er seinen MItreisenden, wäre die Betrachtungsebene zu definieren, denn die ändere sich von Fall zu Fall. Kindern könne man bis zum Alter von etwa sieben Jahren unschwer vermitteln, dass man dämlich ist, wenn man 'nämlich' mit 'h' schreibt. Danach würden die Kleinen durchaus schon einmal feststellen, dass es durchaus dämlich sein kann, wenn man 'nämlich' tatsächlich ohne 'h' schreibt. In Alter zwischen 18 und 25, so Strelitz weiter, schaffe man sich Freunde dadurch, dass man darauf hinweist, dass der Wortstamm von 'dämlich' eindeutig 'Dame' sei, sich 'Herr' aber eindeutig von 'herrlich' ableite. Bei Mitmenschn ab einem Alter von 25 Jahren, sagte Strelitz, als die S-Bahn an der 'Jannowitzbrücke' stoppte, komme das Ganze dann bei weitem nicht mehr so gut an.

Strelitz bemerkte auch, dass es eine Verhandelbarkeit des Ehebruchs an sich gebe; das sei seit Bill Clintons Bekenntnis "I have never had sexual relations with this Woman" durchaus eine Überlegung wert. Aber Clintons Relativitätstheorie des Ehebruchs brächte gelegentlich, so Strelitz als man den Ostbahnhof passierte, neben dunklen Flecken auf männlichen Westen auch helle Flecken auf weiblichen Kleidern. "Darauf muss Mann erst einmal kommen", sagte Strelitz.

Als sich die S-Bahn der Warschauer Straße näherte eröffnete Strelitz seinen Zug-Hörern, dass d auch ein Blick in die Bibel nicht weiterhelfe. Das vierte Gebot besage zwar, man solle seines Nächsten Weib nicht begehren, was, so Strelitz, ganz nebenbei die Frage aufwerfe, ob Fremdgehen in Wirklichkeit nicht doch Bekanntgehen sei. Aber, was hieße schon "begehren"? Habe das denn tatsächlich etwas mit dem Geschlechtsakt zu tun? Gäbe, so Strelitz weiter, nicht auch andere Formen der Vereinigung und sind diese moralisch betrachtet weniger verwerflich?

Das sei, so Strelitz als die S-Bahn an der Warschauer Straße ankam‚ alles eine Frage der Zeit. Man applaudierte ihm, als er der S-Bahn entstieg, über die Spree zum Schlesischen Tor lief, um von dort am Lausitzer Platz vorbei Richtung Waldemarstraße zu schlendern, wo ihn schon seine Freundin Tshi-Kei erwartete. Zuvor rief Strelitz noch seine Frau an und sagte ihr, er sei gut in Hamburg angekommen und melde sich am Abend wieder bei ihr.

"Alles eine Frage der Zeit" schien also im Wesentlichen vom Lebens- und Wirkungskreis des Betrachters abzuhängen, schien eine Verschiebung von Raum und Zeit zu sein. Gertrud Pausewang hatte zwar in ihrem unerhörten literarischen Werk sich diesen Fragen niemals wörtlich gewidmet - Strelitz war aber überzeugt davon, dass man ihrer Frage, ob man wirklich wisse, was der große und der kleine Zeiger zu bedeuten hätten, solches Gedankengut leicht unterstellen konnte.

Als sie sich trafen, gab ihm Tshi-Kei einen Kuss auf seine Pause-Wange und fing an zu erzählen, dass früher rund um die Waldemarstraße in der Nacht zum 1. Mai immer große Straßenfeste gefeiert wurden, zwischen dJugendlichen und der Berliner Polizei, dass es hier früher in diesen Nächten immer ein großes Feuerwerk gegeben hätte und viel Spaß. Heute sei alles hier viel ruhiger geworden. "Alles eine Frage der Zeit", antwortete Strelitz seiner kleinen ägyptischen Katze.

"Komm, wir gehen zum Museusufer", sagte Tshi-Kei zu ihm, nachden sie ihrem Mann telefonisch Bescheid gegeben hatte, dass es heute wieder etwas länger in der Schule dauern würde. "Ich liebe dich", sagte Tschi-Kei noch via Handy zu ihrem Mann und schaute Strelitz dabei tief in die Augen. Der wusste nun, dass dies wieder ein langer Nachmittag im Pergamon-Museum werden würde, inklusive "I have never had sexual relations with this Woman" im östlichen Seitenraum.

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