Mittwoch, 10. März 2010

Die Wahrheit über den Sturz der Saddam-Statue in Bagdad

... und andere Vorkommnisse im Jahre 2003
(oder: Teil 4 der "Ritt nach Kabul"-Trilogie)


Eines Morgens setzten sich zwei Männer zu Strelitz an den Tisch, der gerade im "Heißen Topf" in der Löbstedter Straße saß ("Frühstück ab 6 Uhr, Mittagessen ab 3 Euro 50"); kurz darauf gesellte sich ein weiterer Herr dazu, der sich Strelitz als Sgt. Pigeon vom amerikanischer Militär vorstellte. Er sei in einer Zivilangelegenheit unterwegs, berichtete er und fügte an, die beiden Männer neben ihm würden ihn nur zu seinem Schutz begleiten, man könne ja nie wissen. "Was kann ich für sie tun?", wollte Strelitz sagen, aber als er es aussprach, höte es sich wie "Was habe ich getan?" an.

Er hätte sehr viel getan, sagte Sgt. Pigeon, hauptsächlich habe er sich jahrelang mehr als rührend um eine Gruppe Exil-Iraker gekümmert. Um Hassan den Schmied (Strelitz allerdings besser als 'der dicke Hassan' bekannt), Moussa Moussadek, Ali Mohammad (Spitzname: 'Moha', wegen seines enormen Milchkonsums), den frommen Murat und noch acht andere notleidende Flüchtlinge.

Das stimmte. Strelitz hatte die Gruppe vor ein paar Jahren im Deutsch-Arabischen Zentrum kennen gelernt, als er einen Kurs belegte hatte um endlich zu lernen, 'Eau de Vie' selbst zu brennen, das arabische Wasser des Lebens. Alkoholgenuss war den strenggläubigen Arabern zwar strengstens verboten, aber Wasser kann man in Wüstenregionen schließlich nie genug haben. Mit Hassan, Moussa, Moha und Murat freundete sich Strelitz schnell an. Schlimme Dinge erzählten sie ihm über Saddam Husseins Regime, zum Beispiel, dass Murats Bruder in einem irakischen Gefängnis der Unterschenkel amputiert worden sei. Und der irakische Geheimdienst habe Murat später ein Foto des Bruders ohne Bein zugeschickt zur Einschüchterung, wie er sagte. Strelitz war sich allerdings nicht sicher, ob er das nur deswegen erzählt bekam, weil ihm selbst ein Stück vom Bein fehlte. Aber schließlich kam er zu der Überzeugung, dass an der Sache etwas dran sein könnte - oder auch ab, je nach dem wie man das sah. Im Grunde waren alle vier aber treue Seelen und Strelitz nahm sie auch schon mal mit zu sich nach Haus, dann wieder gingen alle gemeinsam ins Schwimmbad und einmal organisierte Strelitz einen Grillabend, oben am Steinkreuz, mit einem Lagerfeuer und da waren sogar die acht anderen dabei und alle waren glücklich. Aber diese Momente waren eher selten, denn die meiste Zeit redeten Strelitzs irakische Freunde darüber, dass sie wieder in den Irak zurück wollten. Am liebsten sofort, sagte Moha, aber das ginge nicht, so lange Hussein und seine Söhne und Cousins die Macht hätten.

"Hören Sie mir überhaupt zu?" rief Sgt. Pigeon zu Strelitz. "Die amerikanische Regierung möchte die zwölf Herren in den Irak zurückbringen. Und ich versichere Ihnen, dass niemand während des Fluges aus dem Flugzeug fallen wird. Wenn Sie wollen" fuhr Pigeon fort "können Sie sogar mitfliegen, nach Bagdad."

Bagdad? - Strelitz war zwar im Traum schon einmal in Afghanistan gewesen, aber im Irak noch nie. Ob das nicht gefährlich sei, fragte er zurück. "Jungchen" sagte Pigeon "das ist doch der Spaß an der Angelegenheit. Wenn Sie schon einmal in einem Vergnügungspark gewesen sind, indem es todlangweilig war, dann lernen Sie ein bisschen todernste Abwechslung zu schätzen."

Mittwoch Morgen ging es in einem tarnfarbigen Bus los nach Rammstein und dort stiegen alle in einen C17-Airlifter. Sechs Stunden später waren sie auf dem Bagdad International Airport angekommen und betraten den Boden, auf dem einst die zivilisierte Menschheit geboren wurde. Sgt. Pigeon nahm Strelitz beiseite und sagte ihm mit bedeutungsvoller Stimme und auf die Ex-Exil-Iraker deutend: "Die wollen jetzt bestimmt erst einmal zu ihren Familien. Da würden wir nur stören." - Murat kam auf Strelitz zu, dankte ihm für alles, was er für ihn und seine Freunde getan habe, und sagte: "Jetzt sind wir frei und niemand manipuliert mehr unser Leben." Auch Strelitz verabschiedete sich von seinen Freunden und rief ihnen nach, sie sollten sich mal wieder bei ihm melden. Unter dem Schutz von US Soldaten fuhr man sie ins Herz von Bagdad.

Sgt. Pigeon kam nochmals auf Strelitz zu und fragte ihn, wie lange er in Bagdad bleiben wolle. Falls es für länger wäre, dann könne man ja zuerst ein paar Minenfelder inspizieren gehen um dann ein Museum zu besuchen. Aber dann sprach er mit leiser Stimme zu Strelitz: "Wenn Sie allerdings gleich zurückfliegen wollen, dann könnten Sie für mich ein paar Tontafeln mitnehmen. Natürlich alles Kopien, wissen Sie. Das ist genauso, wie mit Saddams Doppelgängern; auch die sehen wirklich verdammt echt aus. Als Dank würde ich ihnen eine kleine Hammurabi-Stele schenken. Selbstverständlich auch eine Kopie, Sie verstehen." Pigeon blinzelte Strelitz zu. "Viele wollen so schnell wie möglich wieder aus dem Irak raus: Minen, Cholera, Überfälle und Plünderungen. Die nächste C- 17 zurück nach Europa startet in...genau fünfzehn Minuten."

Am späten Mittwoch-Nachmittag war Strelitz wieder in Deutschland angekommen. Pigeon hatte ihm noch ein weiteres Geschenk für den Rückflug mitgegeben. Es war ein T-Shirt mit dem Konterfei des irakischen Informationsministers und dem Satz: "...we have everything under controll...". Er solle es in Rammstein anziehen, hatte ihm Sgt. Pigeon gesagt, und es half tatsächlich. Als sie es sahen übernahmen nette GIs -oder waren es Kopien von GIs?- freundlicherweise das Tragen von Strelitzs Handgepäck und legten Sgt. Pigeons fünf große Reisetaschen vorsichtig in den Kofferraum einer Stretchlimousine. Aber wahrscheinlich war auch das nur die Kopie einer
Stretchlimousine.

Abends sah Strelitz dann seine Ex-Exil-Iraker wieder. Nicht leibhaftig sondern Live bei CNN. Er sah den dicken Hassan, wie er mit einem Vorschlaghammer die Marmorplatten am Sockel einer Saddam-Statue kurz und klein hackte. Die anderen Drei stürzten mit tatkräftiger Hilfe amerikanischer Soldaten die mächtigen Statue im Zentrum Bagdads. Moussa winkte Strelitz sogar zu und Moha hielt jubelnd einen Tetrapack Milch hoch, kein Wunder nach 16 Stunden ohne sein Lieblingsgetränk.

Den absoluten Coup landete aber der fromme Murat. Er setzte sich auf Saddams Hals, drücke ihm mit seinen Schenkeln die Luft ab und ritt mehr als eine Stunde auf dem Diktator durch Bagdad. Und CNN meldete pflichtbewusst: "Viele Iraker hatten sich auf dem Platz versammelt um Saddam zu stürzen. Ihre Begeisterung war echt und nicht inszeniert. Sie hatten jahrelang unter dem Regime des Diktators gelitten und unternahmen jetzt aus freien Stücken einen Akt der Selbstbefreiung, indem sie Saddams Standbild stürzten. Präsident Bush sagte der Presse, er sei erfreut gewesen über diese Bilder vom Sturz Saddams. Er danke allen, die geholfen hätten, damit dieser Moment Wirklichkeit werden konnte."

"Kein Problem Dabbeljuh" murmelte Strelitz und fragte sich, wem er heute noch alles in die Fresse schlagen könnte - außer sich selbst.

Nachtrag:

Das Nationalmuseum von Bagdad war eines der schönsten und bedeutendsten im Vorderen Orient. Erst vor drei Jahren war es wieder eröffnet worden, nachdem die Schäden des letzten Golfkrieges beseitigt und die Kunstwerke wieder in der Schausammlung aufgestellt worden waren. Dank einem Jahrhundert internationaler archäologischer Grabungen waren die Depots und Schatzkammern des Museums übervoll: ein zum Teil noch ungehobenes Archiv der Menschheit. Die Plünderung trifft so auch die Forschung. Es wurde komplett geplündert. Bei den Tontafeln mit Keilschrifttexten handelt sich um die älteste Literatur, Geschichtsschreibung und Gesetzgebung der Menschheit.

Die von den US-Soldaten billigend in Kauf genommene Plünderung ist eine grobe Vernachlässigung völkerrechtlicher Verpflichtungen und damit ein Verstoß gegen die Genfer Konvention: Ein Kriegsverbrechen. Wer sich noch daran erinnert, wie erbost die USA allein über die Ausstrahlung von Bildern der US-Kriegsgefangenen waren, dem fehlt hier der Maßstab für eine Bewertung. Was bleibt ist Fassungslosigkeit über dieses Desaster für die menschliche Kulturgeschichte. Im Zweistromland wurde unsere städtische Zivilisation geboren, dort wurde das Rad erfunden und die Schrift. Wie wir uns das Paradies vorzustellen haben, wurde erstmals in Ur formuliert.

Welche neuen, bisher unbekannten Geschichten uns die noch nicht entzifferten Tontafeln erzählt hätten, ist nun für immer verloren. Neben den Straßen von Bagdad liegen viele von Ihnen, sie fielen beim Transport von den Handkarren, zerbrachen und zerfallen nun zu Staub.

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